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Gedanken zum formellen Gedicht: Zwei Aufsätze
​
Wie ein Gedicht entsteht
(Ein Blick hinter die Kulisse)
     
​     Wenn ein Gedicht gut ist, so soll es sich lesen, als sei es ganz leicht und locker hingeschrieben worden: Der Leser soll nicht merken, wieviel Arbeit dahinter steckt. 
     Ich bringe hier erstmals zu Papier, was sich hinter meinen formellen Gedichten verbirgt. Nach jahrzehntelanger Arbeit habe ich derzeit einen Stand erreicht, wo vieles von dem, was ich hier beschreibe, bei mir so sehr ins Unterbewusstsein eingegangen ist, dass Gedichte schreiben für mich so praktisch zu einem intuitiven Handwerk geworden ist und ich sie oft tatsächlich ganz locker hinschreiben kann, als wäre es eine ganz leichte Sache. Musste ich früher oft ein halbes Dutzend blanke Seiten nur für ein einziges, kurzes Gedicht mit Korrekturen und Variationen vollschreiben, so kann ich mir heute die nachstehend beschriebenen Vorgänge und Schritte in meinem Kopf so zurecht legen, dass ich am Ende oft jede Strophe ganz einfach hinschreiben kann. 

1. Am Anfang war die Melodie (Das Versmaß)
     So wie das klassische Gedicht in der griechischen Antike oder die Minnelieder im deutschen Mittelalter, so liegt jedem formellen Gedicht eine Melodie zugrunde. In meinem Falle sind es Sinfonien von Beethoven und Mozart sowie die Messen und Requiems von Haydn und anderen Komponisten, die mir dauernd im Kof herumtönen. Oft sind es aber auch nur einfache C-Dur Stücke, wie Leopold Mozarts „Kindersinfonie“, Mozarts „Kleine Nachtmusik“, das „Menuett“ von Boccherini, die Trompetenkonzerte von Corelli und Torelli oder sogar italienische, französische, russische und amerikanische Volkslieder („Santa Lucia“, „La haut sur la montagne“, Wolga-Lieder, „Amazing Grace“ – um nur ein paar wenige zu nennen), die mir so praktisch als tonaler Hintertergrund und melodische Schablonen für ein neues Gedicht Modell stehen.
     Melodien sind nicht nur auf Instrumenten spielbar. Die großen klassischen Dichter zeichnen sich ja dadurch aus, dass sich im Flusse ihrer Worte meist auch eine  Melodie versteckt, wodurch sie sich vom trivialen Schreiberling unterscheiden. Als Beispiel denke ich etwa an den Beginn der Odyssee: 

Andra moi ennepe, Musa,
polütropon, hos malla polla.

     Ein neueres, klassisches Beispiel stammt aus einem Dialog von Schillers „Wilhelm Tell“:

Sohn: Gibts Länder, Vater, wo nicht Berge sind?
Tell:   Wenn man hinuntersteigt von unsern Höhen,
         und immer tiefer steigt, den Strömen nach,
         gelangt man in ein großes, ebnes Land,
         wo die Waldwasser nicht mehr brausend schäumen,
         die Flüsse ruhig und gemächlich ziehn...​
     
Obschon die Worte nicht reimen, klingen sie wie eine Melodie an unser Ohr. Dies ist auch der Grund, warum so viele Zitate der großen Meister als geflügelte Worte in unseren täglichen Sprachgebrauch eingegangen sind.                                                  
Beispiel: Der Dichter
Tag und Nacht (bei fahlem Schein),
kehrt er in sich selber ein,
holt von seinem großen Horte
Bilder dort hervor, und Worte,
baut sie drei-dimensional
zum Gedicht, das hundertmal
wieder in die Brüche geht,
bis das Werk am Ende steht.

Bös hat sich sein Haar gelichtet,
weil er ständig kratzt und dichtet,
schwitzt und sucht in einem fort
nach dem triumphalen Wort,
welches all sein Elend endet
und den Vers zum Guten wendet.

     Wenn ich ein Gedicht schreibe, wie etwa diesen „Dichter“, so kommt mir (oft ganz unbewußt) die Melodie eines klassischen Gedichts in den Sinn, das ich dann meinem eigenen Werk zugrunde lege: 
     „Der Dichter“, an dessen Entstehung im Jahre 1992 ich mich noch genau erinnere, lehnt sich an den Klang eines Gedichts von Gottfried Keller an. Hier mein Anfang: 

Tag und Nacht (bei fahlem Schein),
kehrt er in sich selber ein,...

     Und Hier der Beginn von Kellers „Waldlied“:

Arm in Arm und Kron' an Krone steht der Eichenwald                        verschlungen,
Heut hat er bei guter Laune mir sein altes Lied gesungen.

     Als Zürcher Staatsschreiber war Gottfried Keller ein Perfektionist. Meiner Meinung nach wollte er aber sein „Waldlied“ eigentlich wie folgt schreiben:

Arm in Arm und Kron' an Krone
steht der Eichenwald verschlungen,
Heut hat er bei guter Laune
mir sein altes Lied gesungen.

     So nämlich, wie ich es für meinen „Dichter“ übernommen habe. Sein Problem war aber, dass er auf das Wort Krone (oder ein Synonym) ganz einfach keinen passenden Reim gefunden hat und es deshalb in der ersteren Form beließ. Denn für diesen pedantisch-klassischen Dichter ging es nicht an, dass sich zwei auf vier Zeilen in einer Strophe nicht reimten.

2. Worte, Klang und Assoziation
     Es gibt Sprachen, wie beispielsweise das Italienische, die sich im Klang sogar in Prosa-Form wie Poesie anhören. Im deutschen ist das etwas schwieriger, doch wenn man die Sprache meistert, so eignet auch sie sich ziemlich gut für Poesie, was die großen Meister der Klassik ja genügend belegt haben.
     Jedes Wort birgt in sich nicht nur einen Klang, der eine Menge Assoziationen hervorbringt, sondern auch das bildliche Element kommt im Unterbewusstsein mit ins Spiel. Deshalb mag ich bandwurmartig zusammengesetzte Hauptwörter nicht und versuche – wenn vom Sinn her notwendig – sie durch Bindestriche in ihre einzelnen Stammwörter zu zerlegen. 
     Noch ein Hinweis auf die Assoziationen: Wenn ein in New York geborener Junge seinen in Kenya lebenden Verwandten von seinem „Haus“ erzählt, so können sich jene in ihrer afrikanischen Lehmhütte von diesem „Haus“ durchaus keine Vorstellung machen. Das mag zwar ein krasses Beispiel sein, doch sind so viele Begriffe durch spezifische Lebenserfahrungen vorgegeben, dass Worte unser zwischenmenschliches Verständnis in großem Maße beeinträchtigen.

 3. Form und Inhalt       
     Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, haben wir es gut: Das globale menschliche Wissen hat sich seit 1900 vertausendfacht und innerhalb weniger Stunden können wir zu jedem beliebigen Platz der Welt fliegen oder fahren. Wir können mit unseren „Handys“ innerhalb von Sekunden irgendeinen Freund auf dieser Welt anrufen und unser Computer gibt uns unverzüglich Antwort auf jede Frage.
     Im alten Griechenland war das anders: Die Bürger langweilten sich in ihren verlassenen Dörfern und zogen daher gerne in den Krieg, wo wenigstens etwas passierte. Und wenn sie nicht in den Krieg zogen, so erfanden sie ihre Götter, in die sie ihre sexuellen und kriegerischen Fantasien hineinprojizierten, um wenigstens so in ihrem Geiste etwas zu erleben.
                                           *
     Heute, wo Form und Schönheitsideale der Antike ganz allgemein, und die des klassischen Gedichts im Speziellen, als „alter Plunder“ über Bord geworfen wurden, zählen bei den neuzeitlichen Gedichten praktisch nur noch der Inhalt und die „moderne Form“, was immer das heißt. Klassische Schönheit sei dem modernen Gedicht hinderlich, heißt es da oft. Und wer modern sein will, der reiht die Worte so aneinander, dass sie –mit einem 12-Ton Musikstück vergleichbar – die Dissonanzen unserer täglichen Umwelt widerspiegeln.
     Bei dieser Sachlage werde ich meinen persönlichen Verdacht nicht los, dies seien oft billige Ausreden von Nichts-Könnern, um damit ihre Erzeugnisse als „Gedichte“ anzubringen. 
     In der modernen Malerei konnte die realistische Darstellung der Klassiker nur deshalb durch Abstraktion verdrängt werden, weil heute jeder mit einem Finger-Klick die Wirklichkeit naturgetreuer in sein iPhone einfangen kann, als das früher je ein Meister zuwege brachte. Aber für den Ersatz großartiger Gedichte der klassischen Meister gibt es keine Äquivalenz zur Kamera ...
     Damit ich richtig verstanden werde: Auch ich habe “moderne Gedichte“ aus einer gewissen Laune heraus geschrieben, die ich ohne zu denken ganz einfach zu Papier brachte. Hier ein kleines Beispiel vom 27. Februar 1999:

Bin ich es, bin ich’s nicht?
Ja doch, ich bin’s!
Im derben Spiegel glitzern
meine lachend-sau‘ren Tränen;

Eissplitter, die,
sich lösend in der Kälte,
am Wind der Rauheit
sich verschämt erhitzen.

Die falsche Schlange
wirft, ertastend,
ihre tote Winterhaut
im schmerzlich fahlen Licht
des Mondes 
von sich ab.

Längst ist zuinnerst mein Gemüt
von unbeseelten Pillen
ausgeblüht.
  

​4. „Punchline“
  Viele meiner Gedichte haben mindestens eine Punchline, die irgendwo im Gedicht stehen kann und dieses charakterisiert, oft mit einem unerwarteten „Twist“, der den vorangegangenen Text in einem völlig neuen Lichte erscheinen lässt. Dies ist meine eigene Erfindung, die ich immer wieder in meine Poesie einbringe, um etwa auftretende Langeweile zu vermeiden. 
     Ein Leben lang habe ich mich gegen die um mich herrschende Langeweile unserer über-saturierten Gesellschaft gewehrt. Hier eine Strophe aus einem meiner Gedichte, die das zum Ausdruck bringt:
             
Alles was nicht flott in Eile

unterliegt der Langeweile,
diesem schrecklichen Gespenst,
das die ganze Menschheit bremst.

5. Reime
     Im Gegensatz zu den Familien-Geburtstags-Amateur-Reimerei-Gedichten (nein, der Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän ist nicht das längste deutsche Wort) kommt der Reim für mich oft an allerletzter Stelle. Das heißt allerdings nicht, dass ich mich nicht oft tagelang mit einem einzigen Reim herumschlage, von dessen Wendung ich zwar intuitiv weiß, dass es sie gibt, die mir aber einfach nicht in die Feder fließen will. Trotzdem: Ohne den makellosen Fluss der Worte in jeder Strophe, gepaart mit perfekten Reimen, erkläre ich nie eines meiner formellen Gedichte als fertig geschrieben.

6. Füllwörter 
    Während ich meine Prosa-Texte oft zweimal überarbeiten muss, um Füllwörter dort zu eliminieren, so sind Füllwörter für meine Gedichte unerlässliche Hilfsmittel zu einem perfekten Fluss. 
     Hier, zur Illustration, einige Beispiele von Füllwörtern [..] in meinem Gedicht „Der Schriftsteller“ (s. unten):

1. Strophe [Roman]-Schriftsteller und [National]-Bestseller –
2. Strophe: [großen] Buchverlag – 3. Strophe: [feuchte] Stirn

​Beispiel: Der Schriftsteller

Herr Meier, ein Roman-Schriftsteller,
schrieb keine National-Bestseller.
Zwar fand ihn mancher fabelhaft,
doch fehlte ihm die Leserschaft.

Herr Meier, der sie selber tippte,
verfasste viele Manuskripte;
die brachte er seit Jahr und Tag
zu einem großen Buchverlag.

Doch wenn Herr Meier wiederkam
von dem Verlag, so stand der Gram
ihm auf die feuchte Stirn geschrieben:
Erfolg war wieder ausgeblieben.

Man nannte Gründe aller Arten
und ließ ihn wochenlange warten,
um den Entwurf zurückzusenden
mit dem Vermerk „nicht zu verwenden“.

Ein Leben lang herumgerannt
ist er, doch blieb er unbekannt,
weil er der irren Meinung war,
mit Qualität würd‘ er zum Star.


7. Mühe und Arbeit 
     Anlehnend an ein lutherisches Wort kann ich von meinen formellen Gedichten sagen: „Und wenns gut geworden ist, so war es Mühe und Arbeit“.
     In meinem eingangs zitierten Gedicht „Der Dichter“ habe ich diese Mühe und Arbeit in Versform gekleidet.  
     Ich verwende gerne das Bild, wonach das Schreiben eines formellen Gedichts mit einer drei-dimensionalen Schachpartie vergleichbar ist, bis alle Forderungen nach Inhalt, Form und Reim so unter einem Hut zusammen kommen, dass es sich ganz locker und selbstverstänlich liest. Es ist bekannt, dass internationale Schachmeister durch ihren Denkprozess oft während einer einzigen Schachpartie über zwei Liter Wasser verlieren. Genauso ist es auch mit dem Schreiben eines formellen Gedichts. ​

© Rudy Ernst 2016 


     
Das formelle Gedicht

Information und Wahrnehmung 
Dem Fundament unserer westlichen Kultur liegt unzertrennlich der menschliche Drang nach Harmonie zugrunde.

Visueller Bereich
     Rund 75'000 Jahre reichen die Ausgrabungen der ersten Kunstgegenstände unserer gemeinsamen Vorfahrens als Homo Sapiens in Südafrika zurück, und etwa 40'000 Jahre alt sind die gleichzeitig in Indonesien, Nordspanien und Südfrankreich entstandenen Höhlenmalereien.
     Aber „erst“ vor 4'500 Jahren blühten die Kulturen, unter denen ägyptische Pyramiden und Maya-Tempel am anderen Ende der Welt als architektonische Wunder entstanden. 
     Und nur 2'000 Jahre alt ist die griechische Antike, die als „Ur-Mutter“ in die Geschichte unserer gemeinsamen westlichen Kultur eingegangen ist und sich mit Denkmälern in Architektur, Bildhauerei und Malerei über das Römische Reich in Europa nach Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Russland ausgebreitet hat, denen wir auch die Grundsteine von Philosophie, Mathematik, Moral, Ethik, Rechtsprinzipien und Literatur verdanken.

Musikalischer Bereich
     Im Gegensatz zu den Überlieferungen der bildenden Kunst, die ihre harmonischen Spuren an Wänden, Museen und Kirchen hinterlassen haben, fehlt uns aber ein langfristiges historisches Wissen im musikalischen (akustischen) Bereich, bis zu den vor etwa 800 Jahren erfundenen Noten- Blättern, die uns seither auch die Klänge der Musik historisch nahebringen.
 
Das klassische Gedicht
     Das klassische chinesische Gedicht spricht durch die visuelle Eleganz seiner Zeichensprache ausschlieβlich das menschliche Schönheitsempfinden und  die kognitiven Denkvorgänge an (Mao Tse-tung wird in China bis heute als großartiger klassischer Poet gefeiert), und ist deshalb mit dem formellen Gedicht unseres westlichen Kulturguts nicht vergleichbar. 
     Demgegenüber wendet sich das klassisch-westliche Gedicht als musikalischer Ausdruck durch die Einheit von harmonischem Versmaβ und im Verbund mit assoziativen Wortklängen und Reimen an unser akustisches Schönheitsempfinden, womit ihm historisch besonders auch musikalisch eine Sonderstellung zukommt.
     Jedem Kind werden in der Schule bis zum „Übel Werden“ die Gedichte unserer abendländischen Kultur eingetrichtert, von Homer über Dante, Cervantes, Shakespeare, Ronsard, Goethe, Schiller und noch vielen anderen Klassikern eingetrichtert, die auch wir zitieren und auswendig lernen mussten. Und doch werden diese heute als „alter Plunder“ verachtet und belächelt, während aber andererseits die Konzersääle unserer Welt nach wie vor den Klängen von Mozart, Beethoven und Bach rauschenden Beifall zollen. 
     Ob dieser Paradox an den zahllosen „Versleinschreiber“ liegt, die zu ihren Familienfesten ihre reimenden Ergüsse zum Besten geben und damit die Essenz des klassischen Gedichts trivialisiert haben? 
     Die Konstruktionen der Gedichte von unseren europäischen Klassikern erinnern in ihrem Aufbau an die Komplexität eines dreidimensionalen Schachspiels, wo der Klang des einzelnen Wortes mit seinem rigurosen Versmaß und einem treffenden Reim akustische Assoziationen hervorruft und dann in seiner Bedeutung als rationale Einheit zusammengebaut werden muss. Damit wird das Gedicht zu einer Kunstform erhoben, die wie bei der Musik auch kognitiv-individuelle Erlebnisse und Denkvorgänge anspricht und intellektuell zu einer genussreichen Erfahrung wird. 
     Und dann muss diese „Konstruktion“ ganz in den Hintergrund treten und darf nicht mehr fühlbar sein, wodurch es sich dann so ganz wie ein selbstverständlich locker hingeschriebener Satz liest, der „aus dem Ärmel geschüttelt“ klingt, den Leser amüsiert, und als „dichterische Wohltat“ empfunden wird.
 

Der klassische Dichter 
     
„Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.“ Ganz wie in der bildenden Kunst, so will auch das Handwerk des klassischen Poeten gelernt sein, das heute leider als Kunstform praktisch verschwunden ist. Doch so wie der kleine Mozart mit fünf Jahren, als er sein erstes Konzert gab, noch kaum ein gelehrter Musik-Theoretiker war, so kann auch die Kenntnis der Versmaβe in der klassischen Poesie nicht einfach in ein „gelungenes Gedicht“ umgesetzt werden. Allzu viel technisches Wissen in der Kunst verdirbt ja bekanntlich die spontane Kreativität, die eben unumgänglich ist, um ein Produkt zum Kunstwerk zu erheben. 
     So braucht das Schreiben von klassischer Poesie jahrzehntelange Übung, bis die technischen Bedingungen beim Dichter so sehr „in Fleisch und Blut“ übergegangen sind, dass der Klang eines Gedichts mit seinem Versmass, dem Reim, seiner Bedeutung, und die vielschichtigen Wortassoziationen so „pfannenfertig“ Strophe um Strophe im Kopf bereit liegen, dass sie nur noch der Niederschrift bedürfen.         
 
Das „moderne Gedicht“
     Im 17. Jahrhundert prägte der französische Philosoph und Moralist Jean de Labruyère  den Satz „Alles ist gesagt und wir kommen zu spät, seit über sieben tausend Jahren, wo es Menschen gibt, die denken.“ 
     Das „moderne Gedicht“, als Teil userer „modernen Kunst“ im allgemeinen, sucht dieses Postulat Lüge zu strafen, indem es nicht nur wie in der Musik, wo das Publikum in einem tiefliegenden Gefühl von Unwohlsein glaubt, die kakofonischen Klänge einer Zwölftonmusik beklatschen zu müssen (um „in“ zu sein), sondern auch in der Poesie ist die irre Meinung verbreitet, unser Kulturgut müsse dringend über den Haufen geworfen werden. 
     „Um Gottes Willen kein Reim!“ heiβt dann die Maxime bei der Beurteilung von Wettbewerben. So werden dann die (falsch verstandenen) Errungenschaften unserer modernen Technologie von großartigen Hilfsmitteln zum bizarren Selbstzweck, und es entsteht ein verzerrtes Kunstverständnis, dessen „Wertgehalt“ (wie heute allgemein üblich) ausschlieβlich den Gesetzen von „Name Recognition“ (Marketing) und Geldwert unterstellt ist, wie das bei den Kunstauktionen besonders krass zum Ausdruk kommt.     

Die überfällige Renaissance
     Der Wahn einer „notwendigen Modernisierung“ unserer Kultur, wie er sich seit der wirtschaftlichen Industrialisierung und derzeit im Computerzeitalter in stets steigendem Maße in unsere „Kultur“ eingeschlichen hat, wo sich das menschliche Erlebnis den vermeindlich „neuen Wegen“ unterordnen soll, -- diesem Irrweg wird nun m.E. eine (schon seit Jahrzehnten überfällige) Zeit der Rückbesinnung folgen, hoffentlich unter Einbezug der klassischen Fundamente unserer Kulturgeschichte.
     Die kürzlichen politischen Ereignisse in Großbritannien, in den USA und im brodelnden Europa, wo sich die schweigende Mehrheit gegen den falsch verstandenen Globalismus einer neuen Klasse von Macht- und Geld-hungrigen Plutokraten erhebt, sind mehr als nur sporadische Anzeichen für den Rückschwung des Pendels, das allzulange in die verkehrte kulturelle Richtung geschwungen hat. 
     Gemeinsam mit eben dieser Entwicklung ist auch zu hoffen, das traditionell formelle Gedicht werde in der Literatur einmal mehr wieder Einzug halten, nachdem ihm die „Informellen“ einen schlechten Ruf bereitet und es jahrzehntelang als „veralterter Plunder“ ins Lächerliche gezogen haben.
 
© Rudy Ernst 
2016  
 

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